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Europa

Sinkende Arbeitslosigkeit in der EU - Glück oder Problem

Thomas Wahl
Dr. Phil, Dipl. Ing.
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Thomas WahlDonnerstag, 16.11.2023
Hurra, die Arbeitslosigkeit in der Eurozone ist am Verschwinden. Sie liegt mit 6,7 % der Erwerbsbevölkerung auf dem niedrigsten Stand seit dreißig Jahren. In der EU sind es sogar nur 6,1 %.
Die Vollbeschäftigung ist bereits in 10 Mitgliedstaaten Realität: Sie weisen eine Arbeitslosenquote von weniger als 5 % auf, die von Ökonomen allgemein als Schwelle für die Erreichung dieses Grals angesehen wird. Dies gilt für Österreich, Dänemark, Irland, Deutschland, Niederlande, Slowenien und auch für Polen. 
Natürlich sollte man Vollbeschäftigung nicht nur auf die Arbeitslosenquote reduzieren. 
Damit dieser Rückgang der Arbeitslosigkeit wirklich positiv ist, muss er mit einem Anstieg der Beschäftigungsquote verbunden sein. Ist dies nicht der Fall, kann es bedeuten, dass eine gewisse Anzahl von Menschen entmutigt aus dem Arbeitsmarkt ausgeschieden ist und somit die Arbeitslosenquote künstlich senkt. 
Auch diese Tendenz scheint momentan in Europa vorhanden zu sein - der Rückgang der Arbeitslosigkeit geht einher mit einem Anstieg der Beschäftigungsquote. Auf den ersten Blick sehr erfreuliche Nachrichten. Dennoch stagniert die Produktion, die gute Entwicklung des Arbeitsmarkts steht in starkem Widerspruch zu der schwachen Wirtschaftstätigkeit im Europa. Wie ist das möglich?

Zunächst ist da eine Variable, die auch der Artikel übersieht. Die Arbeitszeit pro Arbeitnehmer im Euroraum sinkt ebenfalls. Die erfreuliche Entwicklung bei der Beschäftigungsquote fällt also
mit einem deutlichen Rückgang der zur Verfügung gestellten Arbeitszeit pro Arbeitnehmer:in zusammen. Da der An­stieg des Arbeitszeitvolumens seit 1995 deutlich geringer als der Anstieg der Beschäftigung im Euroraum ausfällt, ergibt sich ein Rückgang der durch­schnittlichen jährlichen Arbeitszeit pro Arbeitnehmer:in um rund 6 Prozent bzw. ca. 90 Stunden. In Österreich ist die durchschnittliche jährliche Arbeits­zeit sogar um 11 Prozent bzw. 180 Stunden gesunken, übertroffen nur von der Slowakei.

Auch für Deutschland gilt:

Die Zahl der Erwerbstätigen stieg in den letzten Jahren deutlich an. Jedoch ging das gesamtwirtschaftliche Arbeitsvolumen, das die Summe aller Arbeitsstunden der Erwerbstätigen in einem Jahr erfasst, leicht zurück und stiegt erst seit dem Jahr 2005 wieder an. Das Arbeitsvolumen hat sich somit durch Arbeitszeitverkürzung auf mehr Personen verteilt – wodurch sich der Rückgang der Arbeitsstunden pro Erwerbstätigen erklärt.

Nicht zu vergessen auch die großen Unterschiede bei der Arbeitslosigkeit in der Eurozone zwischen Nichtakademikern, wo die Quote immer noch doppelt so hoch ist wie im Durchschnitt (11,7 % im dritten Quartal 2022), und Akademikern. Auch wenn die Quote bei den weniger Qualifizierten seit dem Ende der Pandemie stark zurückgegangen ist.

Der Artikel nennt als einen weiteren Faktor für die mögliche "Scheinblüte" der niedrigen Arbeitslosigkeit die Demografie. Die arbeitsfähige europäische Bevölkerung nimmt ab. 

Im Jahr 2021 ist die Bevölkerung im Alter von 15 bis 64 Jahren in der Eurozone um 0,6 % und in der Europäischen Union um 0,7 % zurückgegangen. Besonders ausgeprägt ist dieses Phänomen in Italien und Slowenien (-1,9 %), aber auch in Polen (-1,2 %) und Deutschland (-0,5 %); auch Frankreich bleibt nicht verschont (-0,3 %).

Demgegenüber wuchs in den 1980er Jahren die erwerbsfähige Bevölkerung ziemlich stark, jedes Jahr um 0,7 %. 

Um die Arbeitslosenquote zu senken, mussten also umso mehr Arbeitsplätze geschaffen werden, um dies zu kompensieren. Bei einer schrumpfenden oder stagnierenden Bevölkerung braucht man weniger neue Stellen, um die Arbeitslosigkeit zu senken.

Zu diesem Phänomen kommt noch ein tendenzieller oder sogar realer Rückgang der Produktivität (gemessen in BIP pro Arbeitsplatz) hinzu. Letzterer in wirtschaftlich besonders relevanten Ländern wie Deutschland, Frankreich oder die Niederlande. Damit sinkt die Menge an Arbeit, die zur Herstellung einer Ware oder Dienstleistung benötigt wird, weniger schnell als früher bzw. steigt sogar an. Die Produktivitätssteigerung leistet also kaum noch einen Beitrag zum Wachstum. 

Dies erleichtert die Schaffung von Arbeitsplätzen: Wenn ein Arbeitgeber seine Produktion steigern will, kann er sich nicht allein auf die höhere Effizienz seiner Arbeitnehmer verlassen, sondern muss seine Arbeitskraft durch Neueinstellungen vergrößern.

Auch wenn der Ausfall bei der Produktivität für die meisten Wirtschaftswissenschaftler noch rätselhaft ist, man sollte sich dabei nicht auf mögliche Messfehler, Verzerrungen oder gar auf eine von selbst verschwindende Erscheinung verlassen. Dazu dauert m.E. die nachlassende Dynamik der Produktivität und die Suche nach den Ursachen schon zu lange.

Wir leben also in einer Zeit der Ungewissheiten. Scheinbar gute Nachrichten haben ihre düsteren Seiten. Der Wunsch nach weniger Arbeit bei vollem Lohnausgleich ist verständlich. Und angesichts der Knappheit an Arbeitskräften werden viele Unternehmen versuchen, darauf einzugehen. Wie das bei sinkender Zahl an arbeitsfähigen Bürgern und stagnierender Produktivität volkswirtschaftlich gehen soll, erschließt sich mir nicht. Dazu kommen gewaltige Aufgaben wie Energiewende, steigender Renten- und Pflegebedarf, Integration der Migranten, notwendige Verteidigungsanstrengungen und auch die wachsende globale Konkurrenz. Sicher muss und kann man einen Teil des dazu erforderlichen Fachkräftebedarfes durch gezielte Einwanderung abfangen. Aber gemütlicher wird es in der EU nicht. 


Sinkende Arbeitslosigkeit in der EU - Glück oder Problem

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Kommentare 16
  1. Achim Engelberg
    Achim Engelberg · vor 5 Monaten

    Ich weiß nicht, wo diese mäanderne, gleichsam stillstehende Diskussion beginnt und wo endet. Deshalb als Abschluss ein Statement mit weiterführenden Literaturhinweisen.

    Es gibt doch eine breite Strömung, die erkennt, wenn es zu keiner größerer Umverteilung kommt, als Alternative ein Kapitalismus ohne Demokratie droht.

    So der Titel der am Montag erscheinenden deutschen Übersetzung des neuen Buchs des kanadischen Wirtschaftswissenschaftler Quinn Slobodian.
    https://www.suhrkamp.d...

    Das Spektrum, bei Unterschieden in Einzelheiten, der für Umverteilung Plädierenden reicht vom französischen Starökonomen Thomas Piketty über den Wirtschaftsnobelpreisträger Joseph E. Stiglitz bis zu Klaus Schwab, dem Gründer und geschäftsführender Vorsitzender des Weltwirtschaftsforums.

    Dass ein Kapitalismus, der nicht reguliert wird durch starke Gegner, kannibalisch wird, wußten Sozialisten von Bebel bis zu Christen wie Charles Dickens bereits im 19. Jahrhundert.

    Heute spricht u. a. Papst Franziskus von einer "Wirtschaft, die tötet."

    Der Untergang der Sozialismusversuche im 20. Jahrhundert hatte neben massiven Störmanövern bis zu Putschen damit zu tun, dass diese zumeist in Ländern geschahen, die noch keine ausreichende Produktivkraftentwicklung hatten. Solche Versuche enden - so Marx/Engels wörtlich u. a. in der "Deutschen Ideologie" - in der "alten Scheiße".

    In dieser "Scheiße" stecken wir.

    1. Thomas Wahl
      Thomas Wahl · vor 5 Monaten

      Auch abschließend - der europäische Kapitalismus ist nicht kannibalisiert (wodurch und wie auch - durch die Linken als seine Gegner?). Er ist auch hoch reguliert. Und es gibt massive Umverteilung. Also wieso die Behauptung es müsse jetzt Umverteilung geben und die Demokratie sei in Gefahr. Im übrigen waren Gebiete in der DDR, in Tschechien und Teile von Polen, dem Baltikum hochentwickelte Industrielandschaften. So wirklich stimmt dieses Argument also auch nicht. Und so interessant die Theorien von Marx und Engels sind, so falsch waren oft ihre Prognosen. Auch die von der absoluten und relativen Verarmung des Proletariats.

  2. Heinz Friebel
    Heinz Friebel · vor 5 Monaten

    Mir erschließt sich nicht was
    „ Arm .. Reich….. Übergewinnsteuer“ damit zu tun hat.

    1. Lutz Müller
      Lutz Müller · vor 5 Monaten

      Es kommt darauf an, welche Jobs am Arbeitsmarkt neu entstehen. Einige Gedanken hierzu: https://www.piqd.de/eu...

  3. Achim Engelberg
    Achim Engelberg · vor 5 Monaten

    Die wachsende Schere zwischen Arm und Reich wird weitere Krisen hervorrufen. Bislang gibt es nicht mal eine Übergewinnsteuer in Deutschland, sie ist nur angekündigt.

    https://www.t-online.d...

    1. Thomas Wahl
      Thomas Wahl · vor 5 Monaten · bearbeitet vor 5 Monaten

      Der Traum, man könne nachhaltig Wohlstand durch noch höhere Besteuerung von Vermögen schaffen ist wohl auch unausrottbar. Vermögen werden zum größten Teil nicht erwirtschaftet sondern entstehen durch Investitionen und werden dann bewertet. Die Werte schwanken also entsprechend der Erwartungen an die Gewinnmöglichkeiten oder es entstehen zusätzliche Vermögenswerte durch Investitionen. Und gleichzeitig werfen Vermögen oft Gewinne ab. Diese werden besteuert. Wenn ich Vermögen über die Gewinne hinaus besteuern will, dann vernichte ich letztendlich Vermögen. Damit gibt es schon mal eine Grenze für die höhe der Vermögensbesteuerung. Wenn man das BIP auf der Verbrauchsseite nimmt, so haben wir eine Arbeitseinkommensquote von um die 80% (je nach Berechnungskonzept etwas darüber oder darunter).

      https://www.destatis.d...

      Also verbleiben ca. 20% des BIP als Gewinne. Nun wird immer so getan, als ob die Reichen, auf die sich die Gewinne konzentrieren, diese vornehmlich privat konsumieren würden. Aber eigentlich ist das die Basis für erweiterte wirtschaftliche Investitionen in die Zukunft. Sicher, der Staat kann diese 20% stärker abschöpfen und für den Konsum der Haushalte und für Soziales umverteilen. Die DDR und Co. haben das getan. Die Immobilien und die Betriebsvermögen waren eh in Staatshand. Man hat im Sozialismus immer tendenziell zuviel für den privaten Konsum und zu wenig für Investitionen in Wirtschaft und Infrastruktur ausgegeben. Der Gesellschaft ist das bekanntlich nicht bekommen. Und nun sehen wir unter dem Deckmantel der sozialen Gerechtigkeit die Wiederkehr eines populistischen Neosozialismus mit den gleichen oder zumindest ähnlichen Konzepten.

    2. Achim Engelberg
      Achim Engelberg · vor 5 Monaten

      @Thomas Wahl Bislang sind die weniger kannibalischen Phasen und Gegenden immer durch Umverteilung entstanden. In der Systemkonkurrenz des Kalten Kriegs in Westeuropa und besonders stark im "Volkshaus" in Skandinavien. Richtungsweisend und sprichwörtlich ist zu vor der New Deal in den USA, der immer noch anregt.

      Hier ein Beispiel aus der letzten Weltfinanzkrise.
      https://www.boeckler.d...

      Es ist kein weltferner Traum, sondern notwendiger Kampf.

    3. Thomas Wahl
      Thomas Wahl · vor 5 Monaten

      @Achim Engelberg Die Umverteilung im kalten Krieg war deshalb im Westen absolut größer weil die Produktivität im Westen sehr viel höher war als im Osten. Wieviel im Vergleich in den Systemen relativ umverteilt wurde, das weiß ich nicht genau. Die Statistiken der Umverteilung passen nicht richtig für einen Vergleich. Private Vermögen (über Sparvermögen und ein paar Immobilien) gab es ja nicht im RGW. Interessanterweise lagen aber die Sparvermögen zu 80% bei 20% der privaten Konten.

      Schweden hatte in der Tat zeitweise eine sehr hohe Staatsquote. Ist daran aber fast kaputt gegangen. Und die Tradition des schwedischen Volksheimes begann vor der Systemkonkurrenz des kalten Krieges. Kam wohl auch eher aus der nationalen, konservativen Ecke und wurde früh (um 1930) von den schwedischen Sozialdemokraten übernommen.

      Also natürlich ist eine gewisse Umverteilung notwendig. Wer bestreitet denn das? Wir sind jetzt in D bei 50% des BIP, das über den Staat geht. Und das ist nicht weniger geworden, auch nicht gegenüber dem kalten Krieg. Der deutsche Einkommens-Gini wird durch Umverteilung signifikant gesenkt. Wenn man die Rente als Vermögen rechnet, dann gilt das auch für den Vermögens-Gini. Der ist in Ländern mit ausgebauten Sozialsystemen/hohen Sozialleistungsquoten in der Regel sehr hoch. Logisch, denn die Mittel fließen in die (solidarische) Rentenabsicherung und nicht in private Vermögen/Investitionen. Und auch die deutsche Sozialleistungsquote ist heute höher als im kalten Krieg. Das Gerede, nach dem kalten Krieg wurde Staat und Sozialleistung reduziert, ist ein Fake.

      https://www.sozialpoli...

      Selbst in den USA steigt die Staatsquote und die Sozialausgaben seit mindestens 20 Jahren. https://de.statista.co...
      https://www.wko.at/sta...

      Wenn auf der einen Seite also Umverteilung grundsätzlich notwendig ist und in erheblichen sowie steigenden Umfang auch erfolgt, ist auf der anderen Seite der Kampf um die richtige Balance zwischen zuviel und zu wenig eine Stabilitätsvoraussetzung. So zu tun, als gehe es heute im Westen um Umverteilung oder nicht, ist desinformierend. Oder man macht sich selbst was vor. Und diese notwendige Balance ist auch immer eine Balance zwischen Investition in Wirtschaft und Infrastrukturen und Konsumtion. Oder zwischen Sozialhaushalten/öffentliche Investitionen, Arbeitseinkommen/private Investitionen sowie Investitionen in der Wirtschaft. Der Schlachtruf - die Lösung ist mehr Umverteilung - ist für sich genommen unterkomplex, falsch und daher gefährlich.

    4. Thomas Wahl
      Thomas Wahl · vor 5 Monaten

      @Achim Engelberg Wer soll denn wen kannibalisiert haben?

    5. Lutz Müller
      Lutz Müller · vor 5 Monaten · bearbeitet vor 5 Monaten

      @Thomas Wahl Für die Betrachtung der Ungleichverteilung sind die makroökonomischen Aggregate Arbeitseinkommen vs. Unternehmens- und Vermögenseinkommen nicht geeignet (darauf weisen auch die Autoren am Ende des zitierten destatis-Artikels hin).

      - Spitzenverdienste z. B. der Vorstände großer Kapitalgesellschaften zählen auch zu den Arbeitseinkommen. Kleinstunternehmer finanzieren ihren knappen Lebensunterhalt ausschließlich aus ihrem Gewinn – dieser ist Teil der Unternehmenseinkommen. Investitionen in Geschäftserweiterung sind für sie zumeist irrelevant.

      - In dem von Achim Engelberg angeführten Artikel thematisiert Marcel Fratzscher die Vermögensungleichheit. Sie ist nicht mit der Einkommensverteilung gleichzusetzen. Allerdings resultieren hohe Vermögen aus eigener Arbeitsleistung (oder jener der Erblasser) sowie aus der Nutzung der Produktionsfaktoren Boden, Kapital und Arbeit. Abgesehen von finanziellen (spekulativen etc.) Erträgen ist fremde Lohnarbeit die Hauptquelle für hohe Vermögen. Fratzscher spricht über fehlende Vermögen armer Menschen und von Geringverdienern, deren Existenz gerade in unsicheren Zeiten nicht abgesichert ist. Abhilfe ist nur durch Änderung der Einkommenssituation oder Umverteilung möglich.

      - Mittels Steuervermeidung zahlen viele Großkonzerne kaum Steuern auf ihren Gewinn in Deutschland. Außerdem bleibt unklar, inwieweit positive Entwicklungen am Arbeitsmarkt (i. S. sinkender Arbeitslosenzahlen) nicht durch Zunahme prekärer Arbeit bedingt sind. Für Amazon bspw. ist der hiesige Markt mittlerweile nach den USA der zweitgrößte. Eine Recherche zu den Arbeitsbedingungen brachte https://correctiv.org/...

      - Anknüpfend an das Subunternehmerverbot in der Fleischindustrie und das Überlassungsverbot im Baugewerbe, wäre auch ein Direktanstellungsgebot in der Paketzustellung mit dem Verfassungs- und EU-Recht vereinbar. Das sagt ein aktuelles Gutachten: https://www.boeckler.d... (am Ende des Artikels verlinkt)

    6. Thomas Wahl
      Thomas Wahl · vor 5 Monaten · bearbeitet vor 5 Monaten

      @Lutz Müller Mein Kommentar bezog sich zunächst auf den Artikel bei t-online. Darin ging es zunächst um die ad-hoc Aufstellung der Vermögen der "Hilfsorganisation" Oxfam. Und dann den Vorschlag Vermögen stärker zu besteuern um Einkommen steuerlich zu entlasten. Es ging also um eine steuerliche Umverteilung zwischen Vermögen und Einkommen. Wobei man stillschweigend schablonenhaft unterstellt, das Vermögen irgendwie in Geldform vorliegt. Der qualitative Unterschied wird einfach verwischt. Der Artikel redet davon, Vermögen wird irgendwie "erwirtschaftet" oder vermehrt. Das die Vermögenswerte nicht exakt gemessen werden können, dass es sich um eine schwankende Momentaufnahme bei der Schätzung des Wertes im Medium Geld handelt, also nicht um Geld selber, das wird in dieser Denkschablone völlig ausgeblendet. Assetpreisinflation kennt man nicht. Wenn ein Großökonom wie Fratscher nun die Umverteilung zw. Vermögen und Einkommen als gesellschaftliche Lösung präsentiert und dabei die Probleme, Begrenzungen unterschlägt, die sich aus der unterschiedlichen Natur ergeben, dann ist das m.E. unseriös. Natürlich gibt es bei der Betrachtung der Ungleichverteilung Zusammenhänge zw. den makroökonomischen Aggregaten Arbeitseinkommen vs. Unternehmens- und Vermögenseinkommen. Sonst könnte man nicht umverteilen zw. ihnen. Ein Zusammenhang ist z.B., dass die Superreichen die Vermögenseinkommen/Gewinne eben großteils nicht privat konsumieren sondern investieren. Das ist das Grundprinzip des Kapitalismus, wie es Marx beschrieben. Nach Marx ist ja auch nicht dieser private Konsum der Kapitalisten das Problem sondern die Macht über die Investitionsentscheidungen. Nun hat es ja in der Geschichte verschiedene Vergesellschaftungsversuche gegeben, von der Aktiengesellschaft, über das Volks-/Staatseigentum bis hin zum Belegschaftseigentum an Produktionsmitteln. Und immer mußten Eigentümer über die Verteilung der Überschüsse zw. privatem Konsum und Investitionen entscheiden. Also wieviel zahle ich an Löhnen, für soziale Maßnahmen und wieviel für Investitionen. Die populistische Versuchung war bei sozialistischen Staaten (und nicht nur dort) immer, mehr konsumtiv auszugeben. Auch im jugoslawischen Modell der Belegschaftseigentümer wurde eher ausgezahlt als investiert. Bei AG's gibt es ein gemischtes Bild. Je nach Streuung der Aktien hat man in der Tat allerdings das Problem der Manager, die sich überproportional bei den Überschüssen bedienen.

    7. Thomas Wahl
      Thomas Wahl · vor 5 Monaten · bearbeitet vor 5 Monaten

      @Thomas Wahl Von Gleichverteilung oder einer optimalen Ungleichverteilung, die man erreichen will, war in dem Artikel auch nicht die Rede. Keiner weiß, was optimal wäre. Man behauptet, ohne Beweise, die Ungleichheit sei zu hoch, eine gleichere Verteilung sei die Lösung - eine ziemlich eindimensionale Gesellschaftsvorstellung. Und das obwohl Sozialleistungsquoten und Staatsquoten gerade historisch hoch sind. Es ging dann erstmal um Umverteilung und um die Verteilung zw. Einkommen und Vermögen. Wer dass dann als anzustrebende Gleichverteilung interpretiert, der geht noch einen (utopischen) Schritt weiter. Das die Messung in der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung unscharf ist, ist auch klar. Und natürlich sind Vermögen und Einkommen nicht gleichzusetzen. Auch wenn das in Diskussionen immer vermischt wird.

      Großkonzerne zahlen ihre Gewinne dort, wo ihr Stammsitz ist, also nicht generell in D. Das aber nicht (nur) wegen der Steuervermeidung sondern weil dies international so gehandhabt wird. Wenn man die weltweite Steuerquote der einzelnen Konzerne mißt, dann sieht man bspw., dass Amazon oder Starbacks mehr Steuern zahlen als Daimler oder Allianz. Und Apple mehr als SAP. Aber alle über 25 % - bis 36% bei Amazon. Sicher schwanken diese Quoten auch. Leider bekommt man in deutschen Medien über diese globalen Steuerquoten wenig systematische Informationen. Wahrscheinlich weil dann das Märchen, große Konzerne zahlen keine Steuern nicht aufrecht erhalten werden kann.

      https://www.faz.net/ak...

      Wobei man sich natürlich auch in D höhere Konzern-Steuern wünschen kann. Da allerdings ist die Frage, was das für Folgen hat. Eine globale Mindestbesteuerung würde sicher helfen. Aber da diskutiert man wohl gerade 15%.

      https://www.wiwo.de/un...

    8. Lutz Müller
      Lutz Müller · vor 5 Monaten

      @Thomas Wahl „Großkonzerne zahlen ihre Gewinne dort, wo ihr Stammsitz ist ..." -
      stimmt so eben nicht. Das betrifft auch deutsche Konzerne. Die Steuerlast wird teilweise ins Sitzland von Tochtergesellschaften, die nichts produzieren, verlagert. Und sei es auch nur zur Wahrung der Konkurrenzfähigkeit der Produkte im Welthandel.

      Vor einigen Jahren, als Irland seine Unternehmenssteuern massiv reduzierte, tummelten sich dort plötzlich viele internationale Konzerne. Das BIP stieg innerhalb eines Jahres etwa um ein Drittel. Dieser „Irish case“ beschäftigte die Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen bei Eurostat. Die Experten kamen zu dem Schluss, dass die Rechnungen korrekt erfolgten. Für diesen kleinen EU-Mitgliedstaat war es einfach ein riesiger Einkommenszuwachs auf dem Papier. Weder materiell noch finanziell war ein Wachstum in diesem Maße zu verzeichnen, da die Gewinne nach Steuern zumeist ins Mutterland retransferiert wurden.

      Rein inländische Steueroasen gibt es zudem auch in D. Großunternehmen bilden gern Tochtergesellschaften in Gemeinden mit niedrigem Gewerbesteuer-Hebesatz und zahlen so die Steuer nicht am Produktionsstandort. Die dortige Gemeinde hat das Nachsehen und weiß nicht, wie sie ihre stark befahrenen Straßen reparieren und andere öffentliche Leistungen erbringen soll.

    9. Thomas Wahl
      Thomas Wahl · vor 5 Monaten · bearbeitet vor 5 Monaten

      @Lutz Müller Gewerbesteuern sind keine reinen Gewinnsteuern und nicht besonders hoch, beziehen sich aber in der Tat auf den konkreten Standort von Unternehmensteilen. Sicher kann man hier auch gestalten. Die Frage ist, in welchem Maß sich das wirklich lohnt.

      Ja, Besteuerung ist komplex, es gibt unterschiedliche Steuerarten und nationale Varianten. Jedenfalls Zahlen große Konzerne Steuern und das nicht unerheblich. Die Steuerquoten der Konzerne kann man finden, wenn man möchte. Ich hatte ja einige genannt. Aber es klingt immer gut, wenn man behauptet, Unternehmen zahlen zuwenig Steuern. Wo wären denn unter den gegebenen globalen Rahmenbedingungen die richtigen Größenordnungen, die man national real durchsetzen kann? Die Diskussion darüber ist kontrovers, jeder rechnet sein Narrativ schick und Fratzscher ist nur einer der politisch nicht ganz neutralen Kontrahenten. Siehe z.B. hier zu den effektiven Steuerquoten:

      https://www.google.de/...

    10. Lutz Müller
      Lutz Müller · vor 5 Monaten

      @Thomas Wahl Ein "Großökonom wie Fratscher" (sein Name ist: Fratzscher) wird nicht vorschlagen, Betriebsvermögen oder Investitionsgüter zu zerstückeln und in die Hände der "kleinen Leute" umzuverteilen. Im t-online-Artikel zitiert, geht er lediglich auf die fehlenden Vermögen armer Menschen unter den Bedingungen der bestehenden Unsicherheiten ein.

      Verteilungsfragen sind sein Forschungsschwerpunkt. Der Artikel behandelt keinerlei konkrete Umverteilungskonzepte. Um ihm auf diesem Gebiet etwas anzukreiden, müsste man Mängel in relevanten Studien finden. Das ist keine Frage allgemeiner makroökonomischer Zusammenhänge. Die Diskussion hier geht in die vollkommen falsche Richtung.

      Als breit aufgestellte Quelle gibt es "Fratzschers Verteilungsfragen" bei https://www.zeit.de/se...

      Hier räumt er bspw. mit fünf Mythen zu Kinderarmut und Kindergrundsicherung auf: https://www.zeit.de/wi...

    11. Thomas Wahl
      Thomas Wahl · vor 5 Monaten · bearbeitet vor 5 Monaten

      @Lutz Müller Wie will er und andere dann die großen Vermögen umverteilen ohne sie zu zerstückeln? Was genau will er am Vermögen wie besteuern, damit es sich lohnt? Letztendlich geht es doch wieder um die Besteuerung der Gewinne. Die sind auch genauer meßbar. Das ist doch alles windelweich und populistisch. Investivlöhne oder ähnliches wären eine Lösung gewesen. Aber das war nie eine dringende Forderung der Gewerkschaften. Man kann natürlich Erbschaften sehr hoch besteuern. Aber wer schafft dann noch Betriebs-Vermögen, die er letztendlich nicht weitergeben kann. Und wie hoch wäre deren Bewertung, wenn man sie monetarisiert? All diese Szenarien denken über die Folgen und die Reaktionen der Betroffenen nicht wirklich nach. Oder behaupten, es gäbe kaum unerwünschte Folgen.

      Auch räumt Fratzscher nicht mit Mythen der Kindergrundsicherung etc. auf sondern erzählt seine Version davon. Wenn man z.B. wirklich will, dass das Geld, das ja ein Anspruch der Kinder ist/sein soll, ihnen garantiert zu gute kommt, dann sollte man es in die Bildung stecken. Ganztagsschulen, Schulspeisung, mehr Lehrer, sanierte Schulen usw.

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